Ria Endres über Reinhard Kiefers «Thomas Mann – Letzte Liebe»

Letzte Liebe

Ist über Thomas Mann nicht wirklich alles gesagt? Hat dieses Leben und dieses Werk irgendeinen Raum, der noch nicht betreten worden ist? Reinhard Kiefer nähert sich behutsam und diskret dem allerletzten Lebensabschnitt des Jahrhundertschriftstellers. Der Schauplatz: Zürich. Nach einem Vortrag im Schauspielhaus, wo er von einem Galapublikum gefeiert wurde, ist der Nobelpreisträger mit Ehefrau Katia und Tochter Erika im Grand Hotel Dolder abgestiegen. Hier kann er sich ausruhen und sein Leben betrachten. Er sollte eigentlich zufrieden sein. Im eleganten Hausmantel aus Kaschmir sitzt er also im Dolder und betrachtet die einzigartige Exklusivität seines Lebens und Schriftstellerdaseins, aber auch die mit Phantasie durchtränkte Liebe zu jungen Männern zieht an ihm vorüber. Es gibt natürlich keine realen Grenzüberschreitungen mehr für den alten Mann in diesem sich zu Ende neigenden Leben, nur innere Verstrickungen und so etwas wie letzte Liebesgefühle ergreifen von ihm Besitz. Doch Thomas Mann treibt seine erotischen Verlockungen nicht so weit voran, daß sie seine Angst vor einer wirklichen Nähe besiegen könnten. Ein sogenannter thrill, die Angstlust sitzt in seinem Inneren. So lächerlich wie der alte Goethe, der sich mit seiner Greisenleidenschaft bloßstellte, möchte er nicht sein. Auf feinsinnige Weise geht Reinhard Kiefer den wundersamen Erwartungen des großen alten Mannes, der nie sentimental sein will und es doch ist, nach und läßt uns daran teilnehmen, ohne daß wir plumpe Voyeure werden.

Thomas Mann beobachtet den «kleinen Tegernseer», einen Kellner des Dolder, er weiß, daß er sich zum letzten Mal verliebt hat. Er hätschelt seine kaum verborgenen Sehnsüchte und vielleicht auch seine unaufdringliche Resignation, die doch immer wieder zwischen einerseits und andererseits hin- und herschwankt. Reinhard Kiefer führt uns an diesen Sehnsüchten entlang. Sie begleiten den verkappten Romantiker, der seine vor allem durch Katia und Erika Mann geschützte Familienwelt, die ihm jahrzehntelang so luxuriöse Arbeitsbedingungen gewährte, niemals verlassen würde. Das Drama der komfortablen familiären Einbindung bis zum Tod läßt uns Reinhard Kiefer erahnen. Angedeutete Geheimnisse bleiben angedeutet. Kiefer urteilt nicht über Thomas Manns persönliche Eitelkeiten, zum Beispiel die Liebe zur «Fracktoilette». Sie rühren ihn. Ein Rest bürgerlicher Hemmung und die komische Hartnäckigkeit, an seiner späten Liebe festzuhalten, zeichnet der Autor wunderbar nach. Nichts kommt innerlich mehr ins Lot, auch wenn man sich noch so höflich gibt und gut verkleidet. Es ist eben so: Der Tod sitzt schon mit auf der Terrasse des Dolder, später ist er auch in Sils Maria und in St. Moritz mit dabei. Der Nobelpreisträger kann trotzdem seine «letzte Liebe», den Tegernseer Kellner nicht vergessen. Er trifft zufällig auf Hermann Hesse und man plaudert. Es werden ihm Aquarelle von Hesse gezeigt, sie gefallen ihm nicht. «Er leidet nicht wie ich», sagt er zu sich selbst, vielleicht weil Hesse sich zu sehr einen buddhistischen Gleichmut zugelegt hat. Thomas Mann ist unruhig. Zum letzten Mal treibt es ihn voller Furcht zurück nach Zürich ins Dolder. Wohl wissend, daß nichts aus dem Gefühl für den mehr oder weniger ahnungslosen Kellner werden kann, glaubt er doch, daß das Unglück allein darin bestehe, ohne Liebe zu sein. Oder glaubt das nur Reinhard Kiefer?

© 2007 Ria Endres

Reinhard Kiefer: Thomas Mann. Letzte Liebe. Rimbaud Verlag, Aachen 2001. 64 S.

 

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